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18.01.2022

Von der Abenteuerlust gepackt

In den vergangenen zwei Jahren konnte Jens Pippig über 360 Gipfel in ganz Europa erklimmen, darunter viele 2000er. Als einen von zwei 4000ern bestieg er gleich zu Beginn der Reise im Februar 2020 den Alphubel in den Walliser Alpen. Bild: zVg.
Vor zwei Jahren kündigten Jens Pippig und Stephanie Schneider Job und Wohnung und machten sich im VW Bus auf Europareise. Sie legten über 30'000 km aus eigener Körperkraft zurück.

Noch wenige Stunden vor dem Interview stand Jens Pippig auf dem 2114 Meter hohen Gipfel des Gamskofel, dem Hausberg der österreichischen Gemeinde Obergail im Lesachtal. «Und als zweiten Anstieg habe ich mir heute den Schönjochl mit 2296 Metern vorgenommen», erzählt Jens Pippig. Unterwegs zu Fuss, mit dem Bike oder dem Splitboard – einem in der Länge teilbaren Snowboard – sind Touren wie diese in den vergangenen zwei Jahren Alltag geworden. Ende 2019 kündigten der 36-Jährige und seine Freundin Stephanie Schneider Job und Wohnung und starteten ihre Europareise. Noch bis Ende Februar sind die beiden Abenteurer unterwegs, bevor sie in ihre Heimat Ramsen zurückkehren. 

Sportler aus Leidenschaft

Jens Pippig ist leidenschaftlicher Mountainbikealpinist und Splitboarder. Der gebürtige Deutsche stammt aus Zwickau und wohnt, seit er 15 Jahre alt ist, nur mit kurzem Unterbruch in der Bodenseeregion – zuerst in Hilzingen, heute in Ramsen. 

Die Leidenschaft zum Sport entfachte bei Jens Pippig früh. «Während meiner Ausbildung zum Chemielaboranten pendelte ich zwischen Hilzingen, Radolfzell und Konstanz. Meist mit dem Rennrad, da kamen pro Tag um die 70 Kilometer zusammen.» Bald entdeckte er den Triathlonsport für sich und nahm 2008 an seinem ersten Wettkampf teil – dem Bodensee-Megathlon, bei dem er alle fünf Disziplinen (Schwimmen, Radfahren, Inlineskaten, Mountainbiken und Laufen) souverän absolvierte. Kurz darauf gewann er den Hegau-Bike-Marathon (106 Kilometer, 2500 Höhenmeter) in seiner Kategorie deutlich. «Ich hatte so lange diszipliniert trainiert, doch das Messen an Wettkämpfen wurde nie meins. Lieber wollte ich schwierige alpine Mountainbiketouren fahren», so Jens Pippig, der vor seiner Reise als Chemielaborant beim Pharmaunternehmen Merck in Schaffhausen arbeitete.

Seit zwei Jahren ist der VW Bus das Zuhause von Stephanie Schneider und Jens Pippig. Bild: zVg.

Auf und davon

Wie sich Jens Pippig und Stephanie Schneider kennenlernten: Nach einem Mountainbikeunfall im Jahr 2009 wurde Jens Pippig von der damals auszubildenden Pflegefachfrau im Krankenhaus behandelt. Sie verliebten sich und begannen mit den Jahren, von einer längeren gemeinsamen Auszeit zu träumen. Ende 2019 fassten sie den definitiven Entschluss: Sie kündigten Wohnung und Job und tauschten ihren Caddy in einen VW California um. Im Februar 2020 fiel der Startschuss zur Europareise. Wo all das Material aus der gemeinsamen Wohnung untergebracht ist? «In einem Zimmer bei Stephis Eltern», erzählt Jens Pippig schmunzelnd. «Und ja, man merkt nach zwei Jahren, was man eigentlich alles gar nicht braucht», ergänzt er. Das Lösen von materiellen Dingen war eine grosse Erkenntnis für die beiden, die bis anhin schon bescheiden gelebt hatten. «Ein Smartphone kauften wir erst vor der Reise, damit wir mit unseren Verwandten in Kontakt bleiben konnten.» Neben einigen Kleidern im Gepäck des VWs: Zwei Rennräder, zwei Mountainbikes und zwei Splitboards. 

Über 30500 Kilometer in 30 Ländern

Jens Pippig ist ein Fanatiker von Zahlen und Statistiken, deshalb kann er auch ganz genau aufzeigen, was er in den letzten 696 Tagen körperlich geleistet hat: 30 Länder, 19 Hauptstädte, 15 Gebirge und 372 Gipfel erreichte der Abenteurer. Dabei legte er über 26 225 Kilometer mit dem Rad, 2740 Kilometer mit dem Splitboard und über 1530 Kilometer laufend zurück – bei einer gesamten Anzahl von über 810 000 Höhenmetern. «Bei 40 Stunden Sport pro Woche kommt so einiges zusammen.» Wer mehr über die Touren von Jens Pippig erfahren möchte, erhält über die SportApp Strava täglich Berichte mit Bildern der Aktivitäten. «Ob ich dann ein Buch mit der Tourensammlung schreiben werde oder Vorträge halte, das werde ich sehen. Zu erzählen gibt es auf jeden Fall viel.» 

Viele der Etappen legte Jens Pippig mit dem Rennrad zurück. «Meist waren das Strecken von etwa 200 Kilometern.» Doch sie reisten nicht täglich weiter, sondern verweilten an den Destinationen. So ist Österreich das letzte Land vor der Rückkehr Ende Februar in die Schweiz – dies erreichten die beiden von Slowenien aus Ende Dezember. 

Die Reise von Jens Pippig und Stephanie Schneider führte fast durch ganz Europa. Bild: Kartendaten: © OpenStreetMap-Mitwirkende, SRTM | Kartendarstellung: © OpenTopoMap (CC-BY-SA)

Ein Abenteuer ohne Ziel

Doch was ist das Ziel eines solchen Abenteuers mit 40-Stunden-Sportwochen? «Sicher möglichst viel Gebirge kennenzulernen. Und das aus eigener Muskelkraft», erklärt Jens Pippig und ergänzt: «Aber ein richtiges Ziel gab es nie. Wir wollten einfach rauskommen und Spass haben», so der 36-Jährige, dem es schon immer wichtiger war, den Fokus seines Lebens auf dem Privaten zu haben und nicht auf der Karriere. 

Doch die Reise brachte auch Herausforderungen mit sich. «An den meisten Orten merkten wir nichts von Corona, da wir oftmals abseits in der Natur waren», sagt Jens Pippig. Einzig die Grenzübergänge seien während der Lockdowns schwierig gewesen, so mussten die beiden Abenteurer mit grossem Bedauern ein Ziel auf ihrer Reiseliste streichen: das Nordkinn und damit den nördlichsten Punkt des europäischen Festlands. 

700 Euro pro Monat

Mit Fragen wie «Was macht ihr, wenn ihr zurückkommt?» oder «Wie könnt ihr euch das leisten, so lange nicht zu arbeiten?» werden Jens Pippig und Stephanie Schneider häufig konfrontiert. Das Leben unterwegs sei günstig, hauptsächlich zahlen sie für Sprit und Essen. «Durchschnittlich hatten wir Ausgaben von 700 Euro monatlich», führen die beiden aus. In den vergangenen Monaten lernten Jens Pippig und Stephanie Schneider viel über das Thema Stress. «Es ist ein wahnsinniges Gefühl von Freiheit, auf einer verkehrsfreien Strasse in Skandinavien unterwegs zu sein, und das ohne den Druck, wieder pünktlich irgendwo zu sein.» Der einzige Zeitdruck entstehe in den Wintermonaten durch die Dunkelheit.

Nun, einen Monat vor ihrer Heimkehr, freuen sie sich aber doch auch ein bisschen auf zu Hause. «Vor allem darauf, unser Projekt abzuschliessen», so Jens Pippig. Und das, obwohl sie noch nicht wissen, was sie dann machen werden.

An vielen Tagen begegneten die Abenteurer mehr Tieren als Menschen. «Rentiere wie Sand am Meer» sah Jens Pippig auf den Radtouren in Finnland und Schweden. Bild: zVg.
Lara Gansser, Schaffhausen24/Goldküste24