- Kolumne von Dr. Philipp Gut
Als Biograf von Ben Ferencz, dem letzten lebenden Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlichen Kämpfer für Gerechtigkeit («Jahrhundertzeuge Ben Ferencz», Piper Verlag), ist es mir ein persönliches Anliegen, sein Lebenswerk zu fördern. Ferencz hatte und hat bis heute eine nie endende Mission: Aggressionskriege zu verhindern und die Verantwortlichen juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Das ist sein Beitrag und sein Weg zu einer friedlicheren Welt: die Herrschaft des Gesetzes in den internationalen Beziehungen zu etablieren.
Von der Klarheit der Gedanken dieses 102-jährigen Vorbilds und Vorkämpfers, von seinem Mut und seiner Entschlossenheit, können wir nur träumen. Es ist ermutigendes Zeichen, wenn der Krieg in der Ukraine unseren Gerechtigkeitssinn schärft und unser Mitgefühl für die Opfer stärkt. Doch manche unserer Reaktionen darauf verlassen den Boden der Vernunft und der Verhältnismässigkeit. Moral kippt in Moralismus.
Das Sanktions-Dilemma
Dieses Dilemma beginnt bei der Weltpolitik und endet im lokalen Mikrobereich. Ein Beispiel aus der internationalen Politik sind die Sanktionen gegen Russland. Es ist unklar, ob sie die beabsichtigte Wirkung erzielen und das Regime zum Einlenken zwingen. Bisher lässt sich das nicht beobachten. Dafür treffen die Massnahmen viele Unbeteiligte. Darunter russische Bürgerinnen und Bürger, die Putins Krieg ablehnen, aber jetzt in ihrer wirtschaftlichen Existenz getroffen werden. Gleichzeitig wollen die EU und Länder wie Deutschland oder Italien nicht auf russische Energielieferungen verzichten. Damit schwächen sie ihre Glaubwürdigkeit massiv.
Kurzschlusshandlungen fürs Ego
Im Nahbereich zeigen sich ähnliche Erscheinungen: Auch hier ist gut gemeint oft das Gegenteil von gut. Russische Künstler und Sportler werden reihenweise ausgeladen – und wir kommen uns dabei weiss wie moralisch vor. Was das bringt, fragen wir nicht. Könnte es nicht sein, dass es gerade in Kriegszeiten wichtiger denn je wäre, die kulturellen Bande über die Fronten hinweg zu stärken und den Menschen die Hand zu reichen? Sängern, Wissenschaftlerinnen, Tennisspielern, die nicht das Regime verkörpern und es häufig sogar ablehnen?
Ein weiteres Exempel: Ich bin Mitglied der Freischaren-Commission Lenzburg, die alle zwei Jahre im Rahmen des Jugendfestes ein sogenanntes Manöver organisiert, eines der grössten Landschaftstheater der Schweiz. Die Wurzeln dieses Spektakels reichen weit in die Geschichte zurück. Es bezieht die Oberstufenschülerinnen und -schüler ein und verbindet Generationen. Nun überlegt der Stadtrat, ob er diesen Höhepunkt des Stadtlebens absagen will, weil in der Ukraine Krieg herrscht. Das wäre völlig unverhältnismässig, würde ein falsches Signal aussenden und niemandem helfen.
Auch hier gilt: Das Falsche zu tun, um sich besser zu fühlen, ist nicht richtig. Kurzschlusshandlungen eines moralistischen Aktivismus bringen uns nicht weiter – sie schmeicheln bloss unserem Ego.