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31.05.2022

Kiew war auch auf der Flucht immer im Blick

Ulyana Pantsiuk (l.) leistete in der Ukraine während dem Krieg Freiwilligenarbeit. Aus einem Besuch bei Mutter Olena ist jetzt ein längerer Aufenthalt geworden. Bild: Gabriella Coronelli, Schaffhausen24
Mit 13 Jahren musste Olena Pantsiuk zum ersten Mal fliehen. Ihr Heimatort Prypjat in der Nähe von Tschernobyl musste nach dem Atomunfall im Jahre 1986 evakuiert werden. Nun musste sie aus Kiew flüchten.

Als Olena Pantsiuk pünktlich am vereinbarten Interviewort eintrifft, wird sie von ihrer älteren Tochter Ulyana begleitet. Die 28-Jährige ist erst vor wenigen Tagen aus Kiew in der Schweiz eingetroffen. Sie besucht ihre Mutter und ihre jüngere Schwester Daryna, die seit zwei Monaten bei einer Gastfamilie in Schaffhausen untergebracht sind. Auf das lange Flehen der Mutter hin hätte sie nachgegeben und einen Flug gebucht. «Ich bleibe nur für eine begrenzte Zeit bei meiner Mutter und Schwester. Danach fliege ich zurück nach Kiew. Ich leiste Freiwilligenarbeit und bin mit weiteren Gleichgesinnten damit beschäftigt, für unsere Kämpfer Essen zuzubereiten. Unser Land braucht jetzt jede helfende Hand», erzählt Ulyana Pantsiuk, die ihre Mutter fast zwei Monate nicht gesehen hat. «Ukrainerinnen und Ukrainer haben einen sehr grossen Nationalstolz», berichten beide. 

(Anmerkung der Redaktion: Nach dem Interview und vor Redaktionsschluss wurde der «Bock» informiert, dass Ulyana Pantsiuk die Schweiz vorerst doch nicht verlassen wird und bei den notwendigen Behörden den Schutzstatus «S» beantragt hat. Olena Pantsiuk zeigte sich erfreut, nun beide Töchter in Sicherheit zu wissen).

Der Krieg begann unerwartet

Das Mutter-Tochter-Gespann erzählt, wie es in der Nacht zum 24. Februar gegen 4.15 Uhr durch Detonationen aus dem Schlaf gerissen wurde. «Ich rief sofort bei meinen Eltern an», erzählt Ulyana Pantsiuk, die mit ihrem Lebenspartner in einem anderen Stadtteil von Kiew wohnt. Gerüchte um einen möglichen Krieg hätten in der ganzen Ukraine schon seit Wochen kursiert, viele Menschen hätten die Stadt schon während dem ganzen Monat Februar verlassen. «Niemand von uns hätte jemals für möglich gehalten, dass der Krieg auch wirklich ausbricht», berichtet die junge Ukrainerin. Einen Tag danach, am 25. Februar – Olena Pantsiuks Geburtstag, befand sich die ganze Familie fassungslos in einem Schutzbunker. 

Niemand wollte die Ukraine verlassen

Die vierköpfige Familie beriet sich und entschied, Kiew zu verlassen und in einer nahegelegenen Stadt bei Verwandten Unterschlupf zu suchen. Nur für ein paar Tage, so dachten sie zumindest, bis der Krieg vorbei ist. Wenige Tage nach Ankunft in der besprochenen Unterkunft, kehrten sie wieder nach Kiew zurück. Die Familie beschloss, dass der Familienvater Andrew und die ältere Tochter Ulyana in Kiew bleiben sollten. Olena und die jüngere Tochter Daryna sollten mit weiteren Verwandten in den Zug steigen und in einer weiter gelegenen Stadt Zuflucht suchen. Die Fahrt zum Bestimmungsort dauerte sehr lange, denn immer wieder kam es zu ungewollten Umwegen. Russische Soldaten hätten sich in immer mehr Ortschaften stationiert. Es galt, diese besetzten Orte zu umfahren. «Ich konnte nur selten mit meinem Mann in Kiew Kontakt aufnehmen. Im Zug wurde uns mitgeteilt, dass wir unsere Handys aus Sicherheitsgründen ausschalten müssen. Bei eingeschaltetem Telefon könnten uns die Russen aufspüren», erinnert sich Olena Pantsiuk. Mutter und Tochter wechselten mehrmals ihre Zufluchtsorte, bis sie schlussendlich in einem Flüchtlingslager in Polen eintrafen. «Das Flüchtlingslager in Polen war nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Wir wollten nicht weit weg von der Ukraine sein, um nach Ende des Krieges schnell wieder Kiew zu erreichen», beschreibt die nachdenkliche Olena Pantsiuk die Hintergründe. 

Das zweite Mal auf der Flucht

Die gedankenversunkene Olena Pantsiuk erzählt, dass sie bereits zum zweiten Mal in ihrem Leben flüchten musste. Sie wuchs in der ukrainischen Stadt Prypjat auf, unweit von Tschernobyl. Die damals 13-jährige Olena Pantsiuk und ihre Familie packten einen Tag nach dem Atomunfall im Jahre 1986 die notwendigsten Habseligkeiten und verliessen die Stadt. Prypjat wurde nach einer Explosion im nahe gelegenen Tschernobyl evakuiert. Damals dachte die junge Schülerin, dass sie ihre Heimatstadt für nur wenige Tage verlassen müsste. Dass sie niemals wieder nach Prypjat zurückkehren würden, teilten ihr ihre Eltern nur wenige Tage nach der Evakuation mit. 

Die Schweiz aus ukrainischer Sicht

36 Jahre später ist Olena Pantsiuk wieder auf der Flucht. Diesmal führte sie ihr Weg in die Schweiz. «Als wir in Zürich am Flughafen ankamen, hielt ich sofort Ausschau nach den Bergen», erzählt die 49-jährige Olena Pantsiuk. «Ich dachte, die ganze Schweiz besteht aus Bergen, die von überall sichtbar sind», so die zweifache Mutter weiter. Auffallend sei für die 49-jährige Ukrainerin die Höflichkeit der Schaffhauser Bevölkerung. «Wenn ich mit Schweizerinnen und Schweizern rede, dann schauen sie mir in die Augen. Das ist für mich ein Zeichen von Respekt und von Anstand», schwärmt die geflüchtete Ukrainerin. Die Tochter fügt hinzu, dass sie die Zugfahrten in der Schweiz entspannend finde. «Es herrscht so eine angenehme Ruhe in den Zügen. Und wenn Fahrgäste miteinander reden, dann flüstern sie».

Obschon sich die Fernseh-Journalistin nichts sehnlicher wünscht, als dass sie bald nach Kiew zurückkehren kann, hat Olena Pantsiuk sich in Schaffhausen gut eingelebt und möchte auch nach Kriegsende die hergestellten Kontakte nicht abbrechen. 

Ulyana Pantsiuk (l.) leistete in der Ukraine während dem Krieg Freiwilligenarbeit. Aus einem Besuch bei Mutter Olena ist jetzt ein längerer Aufenthalt geworden. Bild: Gabriella Coronelli, Schaffhausen24
Gabriella Coronelli, Schaffhausen24/Goldküste24