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Stäfa
18.07.2022

Ergebnis zur Vorstudie fürsorgerischer Zwangsmassnahmen

Mit Betroffenheit nahm der Gemeinderat nun die Ergebnisse der Vorstudie zur Kenntnis. (Symbolbild) Bild: Pixabay
Im September 2021 bewilligte der Gemeinderat einen Betrag von 15'000 Franken. Damit wurde eine Vorstudie in Stäfa von 1912 bis 1981 erstellt.

Es geht um fürsorgerische Zwangsmassnahmen, Fremdplatzierungen und entsprechende institutionen in Stäfa von 1912 bis 1981.

Mit Betroffenheit nahm der Gemeinderat von Stäfa nun die Ergebnisse der Vorstudie über die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Gemeinde von 1912 bis 1981 zur Kenntnis. Zur Betroffenheit trugen zum einen die allgegenwärtige körperliche und physische Gewalt sowie die stigmatisierende Praxis bei. Zum anderen kommt der Gemeinderat zur Einsicht, dass vergleichbare Automatismen noch heute in unterschiedlichen Bereichen des Lebens und der Verwaltung oft unerkannt vorkommen. Vor diesem Hintergrund soll die Geschichte der Fürsorgepraxis in Stäfa nun systematisch aufgearbeitet und der Bevölkerung auf verschiedenen Wegen vermittelt werden.

Stäfner Fürsorge im 20. Jahrhundert

Im Keller des Gemeindehauses in Stäfa liegen hunderte von Akten der Fürsorgebehörden sauber geordnet in unscheinbaren grauen Boxen. Allesamt sind sie einem Namen zugewiesen und jede einzelne erzählt eine eigene Geschichte. Es sind Geschichten wie jene der kleinen Romy. Ihre Falldokumentation startet im Jahr 1946 im 11. Lebensjahr mit der Scheidung der Eltern. Weil die Behörden deren Lebenswandel als problematisch und die Betreuung der Scheidungskinder als ungenügend einschätzten, wurden Romy und ihre Schwester unter Vormundschaft gestellt. Der zugeteilte Vormund hatte die Aufgabe, durch eine «sorgfältige Erziehung» «bereits eingetretene Schäden» zu beheben und dem Waisenamt regelmässig Bericht zu erstatten. Kurze Zeit später wurde Romy nach Schaan in ein katholisches Mädcheninstitut geschickt. Nachdem die jugendliche Frau nun 16-jährig nach Stäfa zurück kam, zeigte sich dem Vormund schnell, dass sich die streng religiöse Ausbildung nicht nach seinen Vorstellungen ausbezahlen wird. Vielmehr musste er das Waisenamt darauf aufmerksam machen, dass Romy «immer mehr einem liederlichen Lebenswandel verfalle» und sich nächtelang in «zweifelhaften Wirtschaften herumtreibe». Mit derartigen Begründungen wurde sie jahrelang in Anstalten versorgt und erst mit 27 Jahren aufgrund einer Heirat aus der Vormundschaft entlassen.

Dass es diese vielen Aktenmappen mit den Verhör- und Einvernahmeprotokollen, den medizinischen und psychologischen Gutachten sowie den Vormundschaftsberichten überhaupt in dieser Form gibt, hat mit einem Zürcher Gesetz aus dem Jahr 1925 zu tun. Dieses regelte die jahrelange Versorgung von Jugendlichen in Anstalten, selbst wenn die Betroffenen keine Straftaten begingen. Die Begründung, eine Person sei «sittlich verdorben» oder «leiste böswilligen und hartnäckigen Widerstand» gegen die Eltern oder Vormünder, reichte für eine zwangsweise Fremdplatzierung oder für die Versorgung in einer Anstalt. In Stäfa wurden seit dem ersten Weltkrieg junge Frauen aus der Stadt Zürich im heute wenig bekannten Mädchenheim in der heutigen Sprachheilschule versorgt. Bis 1955 wurden sie durch wiederholte körperliche Züchtigung und Zwangsarbeit zu Fleiss und Gehorsam erzogen.

Wie sich die bevormundeten und gezielt von ihren Familien und Bekannten getrennten Menschen gegen einen solchen Entscheid wehren konnten, war ihnen wohl selten bekannt. In den Dokumenten konnte kein Hinweis darauf gefunden werden, dass sie über die Rekursmöglichkeiten aufgeklärt worden waren. Dieser Weg hätte sie zum Bezirksrat geführt, der mit denselben Unterlagen, Berichten und Aussagen vorwiegend im Sinne der Gemeindebehörde entschied.

Weiteres Vorgehen

Der Gemeinderat stimmt der Auffassung zu, dass auch heute im Verkehr zwischen Amtsstellen, Behörden und Privatpersonen jene Grundmechanismen anzutreffen sind, die damals für die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vorherrschten. Aus diesem Grund plant der Gemeinderat, die Forschung zu vertiefen und gleichzeitig ein Vermittlungs- und Aufklärungsprojekt einzurichten. Das Ziel ist es, die Bevölkerung und im Speziellen besonders betroffene Stellen in der Verwaltung gleichermassen auf solche Probleme aufmerksam zu machen. Zudem sollen Geschichten, wie diejenige von Romy, Anlass für das Nachdenken und Diskutieren über eigene Normen und Vorstellungen in der Bevölkerung bieten.

Gutachter

David Kobelt, Historiografische Beratungen, Panormaweg 7, CH-8713 Ürikon ZH, historiker@davidkobelt.ch

Gemeinde Stäfa/Goldküste24