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20.12.2022

Es handelt sich nicht um eine Phase

«Sie haben immer über mich gelacht und mich Zwitter genannt, nur weil ich die Gesellschaft mit Mädchen gesucht habe. Ich bin zurückhaltend geworden, habe die Pausen allein verbracht», erklärt S.R., die sich an eine sehr einsame Zeit in der Mittelstufe erinnert. Bild: pexels.com
S.R.* kam im syrischen Damaskus als jüngstes von vier Kindern zur Welt. Für sie wurden das männliche Geschlecht und die islamische Religion bestimmt. Sie erzählt dem «Bock» ihre bewegende Geschichte.

Als bei der Geburt von S.R.* in Damaskus (Syrien) das männliche Geschlecht eingetragen wurde, war für die muslimischen Eltern des Frischgeborenen noch alles in Ordnung. Doch bereits in den frühen Kindheitstagen stellte sich heraus, dass der Junge lieber mit Puppen statt mit Autos spielte und im Fernsehen die eher femininen Sendungen, wie beispielsweise Rapunzel, bevorzugte. «Normalerweise erzählen Menschen gerne über ihre Kindheit, aber ich gehöre nicht zu denen. Ich habe meine Kindheit nicht gut erlebt, weil ich in dieser Zeit nach meinem passenden Geschlecht gesucht habe», erinnert sich die 24-Jährige zurück. Heute lebt S.R. als Transfrau in Schaffhausen und erzählt dem «Bock» ihre Lebensgeschichte.

Einsame Schulzeit

Als S.R. als Vierjährige in den Kindergarten kam, spielte sie am liebsten mit Mädchen. Zu diesem Zeitpunkt sei ihr erstmals auch aufgefallen, dass sie sich nicht wie die anderen Jungen verhielt. «Meine Familie hatte bereits vor dem Kindergarten gemerkt, dass ich mich eher als Mädchen statt als Junge verhalte. Das Thema wurde aber nie richtig angesprochen. Meine Eltern sagten immer wieder, dass dies nur eine vorübergehende Phase sei.» 

Die ersten drei Schuljahre erlebte S.R. als unproblematisch. In der Mittelstufe änderte sich jedoch dann alles. «Die anderen Schüler merkten, dass ich nicht gleich wie die anderen Jungs war. Sie haben immer über mich gelacht und mich Zwitter genannt, nur weil ich die Gesellschaft mit Mädchen gesucht habe. Ich bin zurückhaltend geworden, habe die Pausen allein verbracht.» S.R. erinnert sich an eine sehr einsame Zeit zurück. In der Schule sei sie im besten Fall ignoriert und im schlimmsten Fall ausgelacht und gemobbt worden. Auch zuhause hat sie sich immer fremd gefühlt: «Mir war nicht klar, was ich genau bin. Ich fühlte mich nicht als Junge, auch wenn mein Körper männlich war. Meistens habe ich mich in meinem Zimmer verschlossen und verliess es, wenn überhaupt, nur zum Essen.» Die Aussage, dass es sich nur um eine vorübergehende Phase handle, hörte S.R. so oft, dass sie irgendwann selbst daran glaubte. Die Syrerin fasst ihr einsames Kindesalter zusammen: «Ich kann nicht sagen, dass ich meine Kindheit als Mädchen erlebt habe. Ich habe sie aber auch nicht als Junge erlebt. Ich habe irgendwie gar keine Kindheit gehabt, weil ich immer nach mir gesucht habe.»

«Schon mehrmals musste ich Beschimpfungen und Körperverletzungen über mich ergehen lassen.»

Die Erkenntnis

In der arabischen Republik Syrien besuchen Mädchen und Jungen getrennt voneinander die Sekundarstufe. Rückblickend seien die drei Oberstufen-Jahre die schlechtesten Jahre für S.R. gewesen. «Ich fühlte, dass ich nicht zu den Jungs gehörte. Dies war auch der Zeitpunkt, an welchem ich feststellte, dass ich mich von Männern und nicht von Frauen angezogen fühle.» Weiterhin nutzte S.R. jede Gelegenheit aus, um sich zu schminken und Frauenkleider anzuziehen, sobald sie zuhause allein war.

Im Teenager-Alter erstellte sie, wie die meisten Gleichaltrigen, ein Konto in den sozialen Medien. «Ich habe als Geschlecht weiblich gewählt. Das Profilbild war ein Frauenfoto. Ich fing an,  mit Männern zu schreiben. Bis zu dem Tag, als mir ein Mann sagte, dass ich zwar wunderschön sei, er sich aber zu Männern hingezogen fühle.» Da sei S.R. klargeworden, dass sie nicht der oder die Einzige war, die sich zu Männern hingezogen fühlt. Ihr wurde bewusst, dass es auch in Syrien Homosexuelle gibt. «Ich habe mich zu diesen Menschen zugehörig gefühlt, war mir aber nicht sicher, ob ich homosexuell oder eine Transfrau bin.» S.R. gibt an, dass es in Damaskus bis zum heutigen Tag keine LGBTQ-Szene gibt. Die Kommunikation laufe ausschliesslich heimlich über die sozialen Medien. 

«Im April 2013 habe ich einen Mann, R.M., kennengelernt, der mich so akzeptierte, wie ich war, und wie ich an einer ernsten Beziehung interessiert war. Wir haben uns besser kennengelernt und waren zusammen in einer geheimen Liebschaft. R.M. war nicht nur mein Partner, sondern meine Familie. Mit ihm konnte ich die Person sein, die ich sein wollte.» 

Als Minderjährige verhaftet

In Syrien wurde S.R. zwei Mal verhaftet. «Das erste Mal nahm mich die Polizei mit, als ich an einer in Syrien verbotenen LGBTQ-Party war.» Da die Partygängerin noch minderjährig war, durfte sie die Polizei jedoch nicht festhalten. Ihr Vater holte sie vom Polizeiposten ab, musste eine Verwarnung unterschreiben und angeben, dass S.R. niemals wieder auf solche Partys gehe. Zuhause angekommen hat S.R. Schläge und Beschimpfungen aushalten müssen. Die Eltern hielten sie ab diesem Tag nun noch mehr im Auge, kontrollierten ihr Handy und verboten ihr, aus dem Haus zu gehen. 

Einige Zeit später wurde S.R. wieder von der Polizei mitgenommen. Dieses Mal liess sich der Vater jedoch mit dem Abholen Zeit. «Mein Vater holte mich erst zehn Tage später ab. Er wollte eigentlich gar nicht kommen, aber schlussendlich hatte er keine andere Wahl. Ich war immer noch minderjährig».  

S.R. hielt ihre Beziehung zu R.M. nach wie vor versteckt, gab ihrem Freund einen weiblichen Namen und sagte ihrer Familie, dass sie in einer Beziehung mit einer Frau sei. «Alles, damit sie glaubten, dass ich ein heterosexueller Mann bin. Nach einem Jahr erfuhren meine Eltern von mir und meiner Beziehung zu R.M. Daraufhin hat mich mein Vater zuhause rausgeschmissen und mich zu meiner Grossmutter geschickt». Etwa zur gleichen Zeit sei R.M. aus Syrien in die Türkei geflüchtet. S.R. durfte als Minderjährige ohne die Einwilligung des Vaters nicht reisen und steckte bei ihrer Grossmutter fest. «Hätte ich reisen dürfen, wäre ich schon damals irgendwo hingegangen, wo ich ein Recht zum Leben habe als LGBTQ.»

S.R. nutzte jede Gelegenheit aus, um sich zu schminken und Frauenkleider anzuziehen, sobald sie zuhause allein war. Bild: Nathalie Homberger, Schaffhausen24

Auf Einsamkeit folgt Isolierung

S.R. wurde immer unglücklicher und einsamer. R.M., ihr einziger Verbündeter, war im Ausland und sie steckte bei ihrer Grossmutter fest. «In einem arabisch-muslimischen Land ist es sehr schwierig, als Transfrau zu leben. Aber nicht nur für Transpersonen, sondern auch für Homosexuelle und biologische Frauen. Bis heute haben Frauen in vielen arabischen Ländern keine Rechte. Wie sollte man denn als Transperson Rechte haben?» S.R. teilt mit, dass sie damals nicht wusste, dass das Geschlecht geändert werden kann, und spezifiziert: «Ich wusste nicht, dass man sein Geschlecht an das angleichen kann, wie man sich fühlt.» 

Die damals 16-Jährige wollte ihr Land verlassen, wusste aber nicht wie. Der Kontakt zum Vater ist nach dem Rauswurf gänzlich abgebrochen, aber mit ihrer Mutter habe sie immer wieder versucht zu sprechen. «Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich in Europa ein besseres Leben haben kann als in Syrien. Ich versprach ihr, dass ich dort anständig werde und weiter studieren könne. Denn dies war für meine Mutter sehr wichtig. Weil es in Syrien aufgrund des Krieges zunehmend schwieriger wurde weiter zu lernen, haben meine Eltern schlussendlich akzeptiert, dass ich nach Europa gehe.» 

Die Flucht aus Syrien

Und so verliess S.R. ihr Heimatland und machte sich auf den Weg in die Schweiz, wo mittlerweile ihr Lebenspartner R.M. wohnhaft war. Sie flog von Syrien in die Türkei. Von da aus nahm sie das Schiff bis Griechenland. Von Griechenland ging es weiter zu Fuss nach Serbien, wo die Weiterreise mit dem Bus Richtung Österreich stattfand. Schliesslich erreichte sie mit dem Zug die Schweiz und wohnte vorerst in einem Asylheim bis sie im 2016 zu R.M. zog. «Die Beziehung ging jedoch auseinander, als ich mit der Hormontherapie anfing. R.M. wollte nicht, dass ich als Frau lebe». 

Die anfängliche Zeit in der Schweiz empfand S.R. als sehr schwierig. «Ich musste mich ohne Familie in einer neuen Kultur, einer neuen Sprache und einem neuen Lebensstil alleine zurechtfinden». S.R. gibt an, dass sie zwei Lehrstellen nicht erhielt, weil sie eine Transfrau ist. Sie erzählt von weiteren Diskriminierungen im Alltag: «Ich ernte sehr oft komische Blicke. Aber leider bleibt es nicht immer nur dabei. Schon mehrmals musste ich Beschimpfungen und Körperverletzungen über mich ergehen lassen. Nur, weil ich endlich so leben kann, wie ich schon immer wollte: als Frau und in Freiheit». 

Mittlerweile hat sie die Lehre als Coiffeuse erfolgreich abgeschlossen, arbeitet in einem Coiffeur-Salon in Schaffhausen und spricht sehr gut Schweizerdeutsch. S.R. träumt davon, eines Tages als Selbständige in ihrem Beruf zu arbeiten: «Obwohl ich nicht als Frau geboren wurde, fühle ich mich heute als selbständige Frau. Ich träume davon, eines Tages nach Kanada auszuwandern. Die LGBTQ-Szene soll da sehr gross sein und generell ist bekannt, dass Kanada für uns ein sicheres und angenehmes Land ist.»

(* Name der Redaktion bekannt)

Gabriella Coronelli, Schaffhausen24/Goldküste24