Ursula Schmid ist inzwischen 90 Jahre alt. Sie war Lehrerin im Heslibach-Schulhaus und die ehemaligen Schüler sind auch schon mehr als 65 Jahre alt.
In Gedanken sind der ehemalige Schüler und die Lehrerin immer noch verbunden. Die Bilder der Seegfrörni haben sich tief eingeprägt, sind lebendig und deutlich. Das Erlebnis verbindet und bleibt in Erinnerung. Es scheint, als wäre es nicht 60 Jahre her, sondern alles hätte gestern stattgefunden.
Vor 60 Jahren
An einem grimmig kalten Morgen im Februar 1963 fällt das «Fräulein Weidmann» – sie ist zwar frisch verheiratet und, wie man so schön sagt, in guter Hoffnung; aber das haben die Kinder noch nicht wirklich gemerkt – einen kühnen Entscheid: «Was meineder», fragt sie ihre 29 Zweitklässler, «wämmer morn all zäme uf Thalwil laufe – und zwar ufem chürzischte Wäg: über de See!»
Die strenge Kälteperiode hat Mitte Januar eingesetzt – und sie will kein Ende nehmen: Seit mehr als drei Wochen verharrt die Quecksilbersäule auf dem Thermometer weit unter der Null-Grad-Marke. An der Schifflände hat seit geraumer Zeit schon kein Schiff mehr angelegt. Der Herr Hedinger, der regelmässig mit seinem Ledischiff vorbeirauscht, ist jetzt für das Wohl der bedrängten Wasservögel besorgt; er schlägt das Eis vom Steg und hält das Wasserloch offen, damit die Schwäne und Enten nicht festfrieren.
Doch eines Morgens sind die Vögel nicht mehr da. Auch das glucksende Wasser ist verschwunden. Von der Linthebene bis zum Zürcher Becken, zwischen Albiskette und Pfannenstiel liegt eine kompakte, zehn bis vierzehn Zentimeter mächtige Eisdecke. So muss es hier vor 20 000 Jahren ausgesehen haben, während der letzten Eiszeit, als ein gigantischer Gletscher sich vom Glarnerland in nordwestlicher Richtung durchs Tal wälzte – und alsbald den Zürichsee gebar. Die Seegfrörni wird zur Steilvorlage für den Anschauungsunterricht in Geologie, Geografie und Geschichte – und im Fach Religion liefert sie eine kühne Antwort auf die Frage, wie Jesus vor zweitausend Jahren das Wunder möglich machte ...
... trockenen Fusses über den See gehen zu können: Dieser Traum wird nun auch für die Menschen rund um den Zürichsee zur realen Möglichkeit. Fehlt nur noch der Segen der Gemeindebehörden – und die brauchen wissenschaftliche Fakten: Umgehend stellt Hans Röthlisberger, nachmaliger ETH-Professor für Glaziologie, vor dem Tiefenbrunnen ein Dutzend 200-Liter-Fässer kreisförmig aufs Eis, füllt sie mit Wasser und wartet erst einmal ab. Nach zwei Stunden verschwinden die Fässer krachend im See. Resultat: Das Eis kann auf 80 Quadratmetern 2400 Kilo tragen.
Am 1. Februar 1963 ab 12 Uhr mittags wird der Zürichsee offiziell zur Begehung freigegeben – und ab sofort herrscht Volksfeststimmung auf dem Eis, von Schmerikon bis nach Zürich.
Die Lehrerin Ursula Schmid spazierte mit ihrem Mann Fred und Küsnachter Freunde von Rapperswil zur Ufenau. Sie ist so begeistert, dass sie beschliesst, mit ihren Schülern auf das Eis zu gehen.
Mit Schal und Mützen gewappnet
Die Kinder nehmen ihren Proviant mit. Mit dicken Jacken, bunten Schals und wollenen Mützen haben sie sich gegen die Kälte gewappnet. Ursula Schmid hat ein Privatgrundstück in der Nähe des Strandbads als ideale Einstiegsstelle ausgemacht und die Bewilligung der Grundstücksbesitzer eingeholt – es sind die Eltern des Schülers Peter Krüsi.
Endlich, am frühen Nachmittag, betreten sie das Eis, zuerst ganz vorsichtig, mit jedem Schritt werden sie mutiger – und immer kühner, bis die Ersten auf die Nase fliegen. Rund eineinhalb Stunden dauert der Ausflug, bis sie das Ziel erreichen: In Thalwil, so geht ein Gerücht, soll es einen Marronistand geben. Doch der hat, wie sich alsbald herausstellt, heute leider geschlossen.
Einige der Kinder haben zu Weihnachten einen Schlitten bekommen. Der muss jetzt natürlich auch mit – als Transportmittel für allerlei Rucksäckli, als Sitzbänkli zum Ausruhen, notfalls aber auch als Rettungsgerät. Andere durften unterm Christbaum Schlittschuhe auspacken, weil ja kurz zuvor in Itschnach zum Auftakt der Wintersaison die Kunsteisbahn eröffnet worden war. Jetzt nehmen die «Schliifschüenler», wie die Lehrerin sie schmunzelnd nennt, die Gelegenheit wahr, eine Karriere als Eisprinzessin oder Hockeycrack zu starten.
Ursula Schmid hält sich stets ganz hinten, immer wieder scannt sie die Gruppe, stets darauf bedacht, keines ihrer 29 Schäfchen aus dem Auge zu verlieren. Die schönsten Szenen hält sie mit ihrer Kamera fest – und natürlich darf auch das grosse Gruppenbild nicht fehlen.
Die schönsten dieser Schwarz-Weiss-Fotos hat sie jahrzehntelang in Alben gehütet, später digitalisiert und auf dem Computer abgespeichert und nach sechzig Jahren an die Redaktion des «Küsnachters» geschickt. «Das sind historische Dokumente», zeigte sich Redaktionsleiterin Manuela Moser begeistert. «Und dahinter steckt gewiss eine tolle Geschichte.»
«Das Gelernte wirkt noch nach»
Das Tollste an dieser Geschichte ist zweifellos die Erkenntnis, gemeinsam ein Jahrhundertereignis erlebt zu haben, das sich höchstwahrscheinlich nie mehr wiederholen wird. Die Seegfrörni vom Februar 1963 hat die Kinder der zweiten Primarklasse vom Heslibach-Schulhaus nachhaltig zusammengeschweisst. «Jedes der 29 Kinder», ist Ursula Schmid überzeugt, «hat auf dem zugefrorenen See etwas gelernt, das bis heute nachwirkt.»
Die drei von der Allmend sind Freunde fürs Leben geworden, die einander regelmässig treffen und immer wieder die Erinnerungen an die gemeinsame «Eiszeit» aufleben lassen. Mit grosser Begeisterung haben sie die Idee begrüsst, für ein Erinnerungsfoto im «Küsnachter» ins Klassenzimmer von damals zurückzukehren. «Zum Glück ist die Schule jetzt denkmalgeschützt», freut sich die Lehrerin, die für den Fototermin ihre Ferien in den Bündner Bergen unterbrochen hat. Der Kinderarzt Thomas Schwank wiederholte die Eistour von einst auf dem Landweg und ist von Thalwil angereist. Christoph Kronauer, Facharzt für Lungenkrankheiten, hatte den kürzesten Weg – er wohnt noch immer im Allmend-Quartier. Ebenso wie Markus Tschudi, der sich über jede Gelegenheit freut, die ehemalige Lehrerin wiederzusehen. Unterdessen hat der Betriebswirtschafter und Naturwissenschaftler seinen neuen Wohnsitz im Engadin bezogen und ist extra aus Celerina angereist. «Das», sagt er, «ist mir unsere liebe Lehrerin Ursi Schmid wert; sie hat uns so schön aufs Glatteis geführt!»
Quelle: der Küsnachter