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Küsnacht
02.08.2023

Wie oft stolpern wir über Clichés im Alltag

Katja Cangero, Freihof Küsnacht. (Symbolbild) Bild: Goldküste24
Als Urenkelin einer Bäckerei und heute als Geschäftsführerin des Freihofs, einer bald 45 Jahre alten privaten sozialtherapeutischen Einrichtung,entspreche ich nicht den Clichés.
  • Festansprache von Katja Cangero

Als mich Markus Ernst mit der heutigen Festrede «beauftragt» hat, hat er mir mitgegeben, ich solle mich lieber kurz und ansprechend als lange und langweilig halten. Zudem einen Bezug zu mir, dem Freihof Küsnacht und Küsnacht selbst herstellen und natürlich den 1. August aufnehmen. Nun ja, ein präziser Auftrag wäre anders, angenommen habe ich ihn – Sie ahnen es – trotzdem. 

Und so stehe ich heute vor Ihnen als Küsnachterin, mit einem Urgrossvater, der seine Bäckerei im Haus des Restaurants Schweizerhof hatte und einer Urgrossmutter, die das Brot mit dem Leiterwagen im Dorf verkauft hat. Ich stehe aber auch als Geschäftsführerin des Freihofs Küsnacht vor Ihnen, einer bald 45 Jahre alten privaten sozialtherapeutischen Einrichtung im Herzen des Dorfes. Was übrigens immer mal wieder für eine Überraschung sorgt, wenn das Gespräch auf meine berufliche Tätigkeit kommt. Offenbar entspreche ich nicht den Clichés, die man sich von Personen macht, die suchtmittelabhängige, psychisch kranke, sozial- und beruflich desintegrierte und/oder straffällige Menschen betreuen und begleiten.

Unhinterfragt übernommen

Über solche Clichés stolpern wir alle in unserem Alltag, als Küsnachterinnen und Küsnachter wissen Sie, wovon ich rede. Die Menschen an der Goldküste von Zürich sind ja alle furchtbar reich, leben in privilegierter Wohnlage und profitieren erst noch von tiefen Steuerfüssen. Als Zürcherinnen und Zürcher sind sie zudem arrogant und halten Ihren Kanton für den Nabel der Schweiz. Und als Schweizerinnen und Schweizer leben sie in einem Land voller Kühe und Brauchtum, können mit Sicherheit jodeln, sitzen auf geheimen Käserezepturen und Bankkonten, besitzen mindestens einen Arm voll Uhren und – man weiss es zwar nicht so genau, aber so sagt man jedenfalls – essen Katzen. Clichés sind sprachliche oder geistige Schablonen, die wir oft unhinterfragt übernehmen, obschon sie meistens wenig mit der Realität zu tun haben. Clichés können amüsieren, so wie vorhin gerade, aber sie können auch stigmatisieren, das erleben wir im Alltag des Freihofs Küsnacht immer wieder. Weil unsere Klientinnen und Klienten haben – ich sage es etwas salopp – ein Image-Problem.

Psychisch krank – komisch

Suchtmittelabhängige sind selber schuld, grundsätzlich faul, unzuverlässig, verwahrlost, sie haben kein Durchhaltevermögen, zu wenig Biss, sind unanständig, verhalten sich auffällig und sind verlogen. Psychisch kranke Menschen sind unberechenbar, irgendwie komisch, sie ticken manchmal aus und werden dann gewalttätig, sie sind nicht leistungsfähig, dabei müssten sich doch einfach mal zusammenreissen. Unsere Klientinnen und Klienten, die strafrechtlich verurteilt und zum therapeutischen Massnahmevollzug im Freihof sind, sind gefährlich, unberechenbar, unehrlich, sie nutzen das System aus, werden eh gleich wieder straffällig, sind mit einem kriminellen Umfeld verwoben, denen traut man besser nicht.

Wenn das wirklich so wäre, hätten wir in unserer Arbeit ganz schlechte Karten und würden den Freihof besser gleich schliessen. Dann wären meine Mitarbeitenden und ich täglich einem unzumutbaren Arbeitsumfeld und unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt und könnten weder an Zielen noch an Perspektiven arbeiten. Aber Sie ahnen es, die Realität sieht anders aus.

Sich von Clichés befreien

Sicher, wer zu uns kommt, bringt eine schwierige Vergangenheit, oft auch eine vermurkste Kindheit mit, ist krank, hat «falsche» Entscheidungen getroffen im Leben und die Verantwortung teilweise nicht wahrgenommen. Unseren Klientinnen und Klienten fehlen oftmals Perspektiven, ihr Bewältigungsstrategien sind mangelhaft, ihre Stress- und Emotionsregulation ist stark eingeschränkt, und sie haben oft Mühe mit Regeln. Und es fehlt ihnen an «Heimatgefühl».

An all diesen Themen arbeiten wir bis teilweise 3 oder gar 4 Jahren, und ich darf Ihnen versichern: Es lohnt sich! Es gelingt, Perspektiven zu entwickeln, neue Lebenskonzepte zu entwerfen und umzusetzen und sich trotz unsteten und ereignisreichen Lebensläufen in die Gesellschaft zu integrieren. Mit anderen Worten: Sich von Clichés zu befreien. Das alles gelingt übrigens auch dank der Gemeinde Küsnacht, der Küsnachter Bevölkerung, die dem Freihof mit Offenheit begegnen und unseren Klientinnen und Klienten mit ihren Aufträgen ermöglichen, in einem Umfeld Arbeitserfahrung zu sammeln, das dem «richtigen» Arbeitsmarkt nahekommt. Und es gelingt auch dank Unternehmen, die unseren Klientinnen und Klienten eine Chance geben und im persönlichen Kontakt mit ihnen neue Sichtweisen gewinnen.

Verlässliche, stabile Beziehungen

Aber ich möchte gerne noch einen Moment beim «Heimatgefühl», bei diesem «Sich-Zuhause-Fühlen» bleiben. Gerade in turbulenten Zeiten, wie wir sie im Moment auf der Welt erleben, ist dieses Gefühl besonders wichtig. Es gibt uns Stabilität und vermittelt uns Sicherheit. Das ist vielleicht mit ein Grund, warum wir heute alle hier sind, um gemeinsam 1. August zu feiern. Wie wichtig muss dieses Gefühl dann erst für unsere Klientinnen und Klienten sein, die oft gleich mehrere turbulente Zeiten hinter sich haben, wenn sie zu uns kommen!

Aber wie ist es möglich, diesen anfänglich fremden Menschen das Gefühl des «Zuhause-Seins» zu vermitteln, ohne die professionelle Distanz zu verlieren? Wie vermitteln wir ihnen, dass sie zu unserer Gesellschaft dazugehören können, wenn auf beiden Seiten – Gesellschaft und Klientel – Distanz, allenfalls Vorurteile oder sogar Ablehnungen bestehen? Die Antworten sind wenig spektakulär. Der Weg führt über verlässliche und stabile Beziehungen, klare und enttabuisierende Kommunikation, Grenzsetzung und -wahrung, Respekt, Wissensvermittlung und eine gute Portion Humor sowohl im Kontakt mit unseren Klientinnen und Klienten als auch gegenüber der Gesellschaft. Menschen, das lehrt mich mein Berufsalltag, können oft nicht miteinander, aber auch nicht ohneeinander. Deshalb lohnt es sich, sich um Menschen zu bemühen. Dabei hilft es zu wissen, dass 99 Prozent von ihnen nicht grundsätzlich «böse» sind, aber manchmal ausgesprochen ungünstig ihre Bedürfnisse verfolgen, auch wenn diese im Ursprung möglicherweise legitim sind.

Im Freihof Küsnacht schaffen wir emotionale Verbindungen, sorgen für Halt und Orientierung, ermöglichen die Erfahrung, wieder im Leben anzukommen, Teil eines funktionierenden Gefüges zu sein.

Gefühl der Zugehörigkeit

Hand aufs Herz, nach Rückschlägen neue Zuversicht zu entwickeln, nach Enttäuschungen wieder aufzustehen, wie es die Menschen im Freihof Küsnacht tun, das geschieht uns allen in unserem Leben. In solchen Situationen hilft uns auch das Gefühl der Zugehörigkeit, wie wir es heute, am 1. August, hier erfahren dürfen, eine Zugehörigkeit, die sie, liebe Küsnachterinnen und Küsnachter mit ihrer Offenheit über diesen Tag hinaus auch auf die Menschen im Freihof übertragen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen jenseits aller Clichés einen wunderbaren Abend.

Kontakt

Oberwachtstrasse 15, Postfach 540, 8700 Küsnacht

Tel  +41 (0)44 911 02 03, Fax +41 (0)44 911 02 27, info@freihof-kuesnacht.ch

Auftragsannahme Tel  +41 (0)44 911 02 15

Freihof Küsnacht

Katja Cangero, Geschäftsführerin des Freihofs Küsnacht / Goldküste24